Reinste Poetik

Son­ja war für Leo und mich kein sterblich­er Men­sch. Sie bestand aus Wun­deren­ergie, die uns das Gefühl ver­lieh, mehr zu sein, als wir waren, und die Art und Weise, wie Son­ja uns und sich selb­st behan­delte, schuf den Glauben, dass wir drei tat­säch­lich in ein­er Welt lebten, in der es neben uns keine weit­eren Men­schen gab.

csm_9783862200344_cover_4bd86a4dcbDer 13-jährige Ich-Erzäh­ler Lau­ri ver­bringt um 1960 seine Som­mer­fe­rien bei Ver­wandten im Nor­den Finn­lands. Onkel und Tante gehören der dor­ti­gen Erweck­ungs­ge­mein­schaft an und geben sich vol­lends der Reli­gion hin, während ihre Kinder Son­ja und Leo im Ver­bor­ge­nen auf­begehren. Lau­ri wird unverzüglich in die ver­traute Zweisamkeit aufgenom­men und gemein­sam erleben die drei Jugendlichen einen verza­uberten Som­mer. Sie spie­len ver­botene Spiele, träu­men vom Fliegen und ersehnen eine Lebensweise, wie sie im schein­bar fer­nen Europa schon lange prak­tiziert wird.
Die Zukun­ft scheint zum Greifen nahe, doch dann geschieht die Katas­tro­phe, die allem ein Ende setzt.

Rax Rin­nekan­gas klein­er Roman „Der Mond flieht“ zieht einen augen­blick­lich in den Sog der unheim­lichen Geschichte, in der unter der gleißen­den Som­mer­son­ne das Verder­ben lauert. Ohne eigentlich viel Inhaltlich­es zu erzählen, spielt Rin­nekan­gas mit Diver­gen­zen und den daraus resul­tieren­den Kon­flik­ten: Jugend und Alter, Reli­gion und Frei­denker­tum, Gut und Böse, Schuld und Sühne. Ger­ade der junge Lau­ri muss am eige­nen Leibe erfahren, was es heißt, in ein­er Gemein­schaft gefan­gen zu sein, die nicht den eige­nen Ansicht­en entspricht. Die zen­trale Frage, die sich die Kinder immer wieder stellen, ist, wie etwas böse sein kann, das sich doch gut und richtig anfühlt. Und wie man für etwas süh­nen soll, für das man keine Schuld empfind­et. Eine The­matik, mit der sich auch der Leser früher oder später kon­fron­tiert fühlt. Was den Roman darüber hin­aus so lesenswert macht, ist Rin­nekan­gas drama­tis­che Erzähltech­nik. Die Zeit­struk­tur ist keines­falls lin­ear und wird immer wieder durch unheilschwan­gere Rück­wen­dun­gen und Voraus­deu­tun­gen unter­brochen. Seine Erzählweise ist nüchtern und streng im Satzbau, aber unge­mein lyrisch in der Beschrei­bung der Natur und der men­schlichen Beziehungen.
„Der Mond flieht“ ist Poet­ik in Prosaform.

Info:
Autor: Rax Rinnekangas
Titel: Der Mond flieht (Kuu Kaarka)
Erschei­n­ungs­jahr: 2014
GRAF Ver­lag, 160 Seiten

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