Der neue Krimi „Ein kalter Fall“ von Anne Holt

von Mar­ti­na Sander

Hanne Wil­helm­sen, einst gefürchtete und hoch geschätzte Ermit­t­lerin in Oslo, sitzt im Roll­stuhl, seit sie bei einem Ein­satz angeschossen wurde. Die gewalt­tätige Welt draußen inter­essiert sie nur noch virtuell, ihr schick­es Loft, das sie mit Frau und Tochter bewohnt, ver­lässt sie nicht mehr. Eine ungenutzte Ressource find­et die nor­wegis­che Polizei und zwingt sie san­ft, sich Cold Cas­es anzunehmen, schließlich könne sie die auch am heimis­chen Schreibtisch aufrol­len. Als Lauf­bursche soll ihr der geniale, aber sozial inkom­pe­tente Hen­rik Holme dienen, der, um seine Ticks im Griff zu behal­ten, gerne auf seinen Hän­den sitzt. Als Bomben in Oslos Innen­stadt detonieren und Exkol­lege Bil­ly T., der seinen Sohn in ein­er islamistis­chen Ter­ro­ror­gan­i­sa­tion ver­mutet, Hanne verzweifelt um Hil­fe bit­tet, wird sie sehr plöt­zlich zurück ins reale Leben katapultiert.

Anne Holt, Anwältin, Polizei­juristin und für kurze Zeit Nor­we­gens Jus­tizmin­is­terin, ken­nt sich in ihrem lit­er­arischen Genre bestens aus, sie ken­nt die Polizeiar­beit und den Mach­tap­pa­rat von innen. In ihrem neun­ten Krim­i­nal­ro­man um Hanne Wil­helm­sen „Ein kalter Fall“ sind ihr wie immer gesellschaftliche Struk­turen und Koop­er­a­tionsver­suche abwe­ichen­der Inter­essens­grup­pen wichtig, aber seit Utøya hat sich ihr The­men­bere­ich ver­schoben. Fanatismus, Ras­sis­mus, Ter­ror­is­mus wer­den zunehmend zu ihrem Haup­tan­liegen — was in diesem Fall allerd­ings dazu führt, dass die Lesenden, die von der poli­tis­chen Kor­rek­theit der Sozialdemokratin aus­ge­hen, den Ermit­tel­nden einen Schritt voraus sind. Holts Charak­tere fügen sich in die Riege der ein­sied­lerischen, depres­siv­en Typen ein, das schrift­stel­lerische Inter­esse der Autorin gilt, wie im post­sozial­is­tis­chen Skan­di­navien üblich, den unangepassten Typen, denen, die nicht unbe­d­ingt Sympatieträger*in sind; ihre Ermittler*innen sind eher Sozio­phobe als Sozialarbeiter*innen (wobei sie es mit der Aus­gestal­tung ihres Side­kicks Hen­rik Holme über­trieben hat, der bis zur Karikatur exzen­trisch scheint).

Ob sich Anne Holt auch der nördlichen Kri­mi-Regel der Dekalo­gie unter­wirft, ist neben dem Plot dieses Falls eine span­nende Frage, die allerd­ings erst im näch­sten Band gek­lärt wer­den kann.

Info
“Ein kalter Fall” von Anne Holt
Die “Hanne-Wil­helm­sen-Rei­he”, Band 9
Aus dem Nor­wegis­chen von Gabriele Haefs
Piper, 432 Seiten